Egon ist Professor an der Universität. Da arbeitet er schon so lange, wie er denken kann. Sein Spezialgebiet ist die Quantenphysik. Für viele Leute mag das ein sehr kompliziertes Wissensfeld sein. Viel zu theoretisch, zu viele mathematische Formeln und Berechnungen und zu abstrakt abgehoben. Aber Egon liebt seine Arbeit. Wenn er in die subatomare Welt der Kleinstteilchen abtauchen kann, dann fühlt er sich lebendig. Jedenfalls mehr lebendig, als unter Menschen. Atome, Quanten und Quarks sind seine wahren Freunde. Egon hat es nicht so mit Beziehungen zu realen Leuten. Darum ist er mit seinen Anfang Sechzig auch immer noch allein. Doch, wie gesagt, er will es auch gar nicht anders. Solange er nur seine Forschungsarbeiten hat.
Aber dann passiert etwas, was Egon völlig aus der Bahn wirft. Ein Schlaganfall. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Er hat es nicht kommen sehen. Eigentlich gab es auch gar keinen Grund dafür. Wieso auch?! Egon lebt gesund. Er raucht nicht, er trinkt nicht. Er hält sich fit und fährt sogar jeden Tag mit seinem alten, klapprigen Herrenrad zur Uni. Jedenfalls hat er es getan bis zu jenem Tag, an dem alles anders wurde.
Sein Körper, sein Leben, alles wurde jäh in zwei Hälften gerissen.
Seine rechte Hälfte ist nun gelähmt und baumelt, wie ein Fremdkörper an ihm herab. Die linke Hälfte kann er nach wie vor mit seinem Verstand regieren und kontrollieren, so wie er es immer tat. Egon lebt jetzt in zwei Welten. Und das ist auch nicht wirklich besser geworden nach den Wochen in der Reha-Klinik.
Zumindest das Sprechen kam wieder zurück. Wortfindungsstörungen sind nur noch gelegentlich da. Wenigstens ein Lichtblick am Horizont. Aber dieser verdammte Kontrollverlust. Diese demütigende Bedürftigkeit, Hilfe und Unterstützung durch andere zu benötigen. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er darauf gerne verzichten können. Aber ihn hat ja keiner gefragt und nun geht es nicht mehr anders. Er braucht andere Menschen, die ihm helfen bei den kleinsten Alltäglichkeiten.
Gott sei Dank – oder wem auch immer… er braucht wenigstens nicht in eine externe Pflegeeinrichtung, sondern kann in vertrauter Umgebung in seiner Wohnung bleiben. Seine sehr gute, aber dafür auch sehr teure Krankenversicherung ermöglicht ihm eine häusliche Pflege.
Lars heißt der junge Pfleger, der jetzt jeden Tag zu ihm kommt und ihn betreut. Der ihm hilft beim Waschen, Anziehen, bei den physio-therapeutische Sperenzien und bei tausend anderen Sachen. Egon hat bis dato nicht gewusst, wieviel man so allein gut hinbekommt. Aber das ist nun vorbei. Das ist total frustrierend!
Seinen Frust hat er dann an Lars ausgelassen. Neulich hat Lars ihn angesprochen und gefragt, warum Egon sich so hängen lässt. Warum er so pessimistisch, depressiv und negativ drauf sei. – Na, das ist doch wohl offensichtlich. Das Leben hat ihm schlecht mitgespielt und da hat man doch wohl sein Recht drauf, sich richtig mies zu fühlen. Oder etwa nicht?
Und dann hat der Lars angefangen von Leuten zu reden, die auch ein schweres Leben haben, aber nicht aufgeben. Er erinnert Egon an einen anderen großen Physiker. Stephen Hakwing, der sein Leben lang im Rollstuhl saß und sich trotzdem nicht davon abhalten ließ, seine Lebensberufung auszuleben. Und er spricht auch von Samuel Koch, den jungen Mann, der querschnittsgelähmt ist und jetzt sogar geheiratet hat. Egon kann sich noch gut daran erinnern, wie der Samuel Koch vor Jahren vor laufender Kamera im Fernsehen verunglückte. Egon war quasi live mit dabei gewesen. Tja, und jetzt hat der Samuel Koch sogar geheiratet? Kaum zu glauben, wozu manche Menschen fähig sind?! Nein, aber das ist nichts für ihn, für Egon! Er bleibt dann doch lieber allein mit seinen Atomen und Quanten.
Doch die Worte des Pflegers lassen Egon einfach nicht mehr los.
Sollte sein jetziges Leben in engen Grenzen doch noch einen Sinn machen?
Er muss an die Quantenphysik denken. An seine Forschungsarbeit. Hat er nicht oftmals staunen müssen über die Schönheit und Perfektion, die er mitten im Chaos fand.
Ja, Staunen ist wohl das richtige Wort dafür.
Egon fand es sein Leben lang sehr beruhigend zu wissen, dass man wissenschaftlich alles logisch erklären kann. Bis er Quantenphysiker wurde. Für die chaotische Welt der Quantenteilchen scheint das nicht mehr zu stimmen. Je tiefer wir schauen, desto unlogischer und fast scheinbar willkürlich geht es da zu. Aber dabei doch irgendwie auch wieder absolut perfekt und von höherer Hand geordnet.
Ja, genau diese Worte fielen Egon oft bei seinen Forschungen ein: von höherer Hand geordnet! Gibt es da jemand Höheres? Gibt es da jemand, der alles sieht, lenkt und in seiner Hand hält?!
Erinnerungen steigen auf. Egon war ja auch mal ein junger Mann und da sangen sie damals am Lagerfeuer Gospellieder zur Gitarre. „He´s got the whole world in his hand.“ Gott hält die ganze Welt in Seiner Hand. Schön, wär´s!
Aber bei Egon hat Gott wohl danebengegriffen. Ihn hat er fallen lassen. Schlaganfall.
Nein, er kann nicht verstehen, wozu das gut sein könnte. Wie passt ein solcher Schlag mit Gott zusammen?! Egal welchem Gott?!
Doch dann muss Egon wieder an seine vertrauten Freunde, an die Welt der Atome, denken. Er muss daran denken, wie ein Atom zu 99 Prozent mit Unsichtbarem gefüllt ist. Das ganze Universum ist zu 95 Prozent mit unsichtbarer Materie und Energie erfüllt. Und da ist es wieder das Staunen in ihm. Alles Leben, angefangen vom winzig kleinen Atom bis zur unendlichen Weite des Universums, scheint mit einer gefüllten Energie aufgeladen zu sein, die man nicht sehen kann, die aber doch da ist. Unlogisch unsichtbar, und doch messbar, real erfahrbar.
Egon staunt. Und sein Staunen wird zu einem Gebet. Zu einer zarten Frage in seinem Herzen: „Du… Du Unsichtbarer, der Du alles umgibst und durchdringst. Bist Du auch bei mir, hier in meiner Not?!“
Zuerst Staunen. Dann Schweigen und Stille. Zum Schluss Frieden.
Friede, nicht von dieser Welt, erreicht das Innerste von Egon.
Und dieser Friede ist ihm Antwort genug. Eine Antwort, die Egon unendlich guttut.

Matthias Hoffmann