Das Geheimnis der Tage

                
Schlomo war Töpfer in Nazareth, einem kleinen Ort in Galiläa, dem Norden Israels.

Er liebte es, wenn die letzten goldenen Sonnenstrahlen seine kleine Werkstatt mit Abendlicht erfüllten. Das war die Zeit, in der Hadassa nach Hause kommen würde, um das Abendessen vorzubereiten.

Hadassa war sein einziges Kind und sein ganzes Glück. Dies junge anmutige Mädchen von 14 Jahren  erinnerte Schlomo so sehr an seine verstorbene geliebte Frau Rachel, die viel zu früh vom ihm gegangen war. Hadassa brachte ihrem Vater Licht und Freude in sein karges, oftmals schweres Leben. Sie erzählte ihm von all den Abenteuern und Neuigkeiten, die sie im Laufe des Tages in der kleinen Stadt Nazareth auf ihren Entdeckungs-Wegen sammeln konnte.

In den letzten Tagen hielt sie sich oft im Nachbarhaus bei der Familie von Josef, dem Zimmermann auf. Besonders Josefs ältester Sohn, Jeschua, hatte es seiner Kleinen angetan. Begeistert berichtete sie mehrmals über Josefs Sohn, was der so alles konnte und wusste.

So war es auch heute Abend. Hadassa stürmte in die Werkstatt herein und umarmte leidenschaftlich ihren Vater. „Hallo, Papachen, ich bin wieder Zuhause!“, trällerte sie fröhlich. Schlomo, der noch ganz feucht lehmige Hände vom Töpfern hatte, versuchte sich aus der zärtlichen Umklammerung seiner Tochter sanft zu lösen.

„Mein Täubchen, das ist nicht zu überhören und zu übersehen. Schalom! Schön, dass Du wieder da bist! – Na, was hast Du heute bei Deinem Rabbi erlebt?!“

Schlomo nannte Jeschua, den Sohn Josefs, manchmal scherzhaft „Rabbi“ – weil Jeschua oftmals in der Synagoge dadurch auffiel, dass er die Heiligen Schriften anscheinend besser kannte, als all die gelehrten und weisen Rabbiner zu Nazareth. Man erzählte sich auch in der ganzen Stadt seit vielen Jahren, jene Begebenheit von Jeschuas Bar Mizwa. Damals in Jerusalem habe der junge Mann mit seinem Wissen der Schriften selbst die Gelehrten im Tempel in Staunen versetzt.

Hadassa verharrte bei dem, was sie gerade begonnen hatte fürs Abendessen zu richten und schaute mit ihren herrlich glänzend schwarzen Augen ihren Vater an: „Papachen – ich weiß, er ist ja eigentlich Zimmermann, aber er erlaubt mir bei seinen Arbeiten zu zuschauen und da kann ich einfach all meine Fragen stellen. Du weißt, wie viele Fragen in mir leben…!“ „O ja, mein Täubchen!“ seufzte Schlomo mit gespielter schmerzverzerrter Stimme. „Nun, und was hat dein junger schöner Rabbi von nebenan Dir heute beigebracht?!“, wollte er wissen, und zwinkerte ihr dabei aufmunternd zu.

„O, Papachen, ich liebe es, wie Jeschua die Dinge sieht. Er ist so voller Weisheit und Güte…!“, schwärmte das junge Mädchen. „Ja, ja, und er hat schöne Augen und starke Muskeln an der Oberarmen…!“ beendete der Vater ihren Satz. „Papachen, Du weißt, wie ich das meine!“ entrüstete sich Hadassa mit ebenso gespielter Empörung. „Und außerdem weißt Du genau, das mein Herz nur einem Mann gehört – und das bist Du!“ Mit diesen Worten drückte sie ihrem Vater einen dicken Kuss auf die Stirn. Diese kleinen Plänkeleien gehörten zu ihrem täglichen Hin und Her, was sie beide so gerne mochten und genossen.

„Aber gut, ich werde jetzt meinem armen alten unwissenden Papachen beibringen, was der weise Rabbi Jeschua mich heute gelehrt hat!“ sagte sie und stellte sich dabei keck und aufrecht vor ihn hin.

„Jeschua lehrte mich heute über das Geheimnis der Tage!“

Sie genoss es für einen kleinen Moment in die fragenden Augen ihres Vaters zu blicken, dann fuhr sie fort, und wirkte dabei viel reifer, als sie tatsächlich schon war. „Jeschua sagt: jeder Tag gleiche einem ganzen Leben. Er nannte das, das Geheimnis der Tage. Für uns Juden erstreckt sich die Länge eines Tages von Sonnenuntergang zu Sonnenuntergang. Dahinter liegt ein tiefes Geheimnis des Himmels, so sagt es Jeschua. Adonai, der Allmächtige und Barmherzige, habe uns in Seiner grenzenlosen Weisheit ein Gleichnis geschenkt, das wir an jedem neuen Tag durchleben können. So wie auch unser menschliches Leben im Dunkeln unserer eigenen Erinnerungen begonnen hat, beginne jeder neue Tag im Dunkeln der Nacht. Jeder Morgen, jeder Sonnenaufgang, sei wie eine Geburt. Ein neuer Tag bricht hervor, so wie auch wir aus dem Mutterschoß ins bewusste Leben hervorkommen. Die kühlen und hellen Morgenstunden gleichen der Jugendzeit voller Schaffenskraft. Diese Stunden sind am besten geeignet für die Arbeit. Die Mitte des Tages, wenn die Sonne am Höchsten steht, und die Familie sich im Schatten versammelt, gleicht der Mitte unseres Lebens, wenn wir uns Familie, Beruf und Glaubensleben im Schatten des Allmächtigen erfreuen. Der Nachmittag ist eine angenehme Zeit, nicht zu heiß und nicht zu kühl, gerade recht, um die Früchte der Arbeit zu genießen. Das sei wie im Herbst beim Laubhüttenfest, sagt Jeschua, da dürfen auch wir die Gaben der Ernte feiern. Und dann wird es bald wieder dunkel und die Nacht wird alles mit ihren schwarzen Kleidern zum Schlaf bedecken. Jeschua sagt, so wie wir uns zur Nacht Schlafen legen und wieder ins Unbewusste der Träume gleiten, so werden wir eines Tages die Augen schließen und hinübergleiten in die Wohnung des Höchsten, wo Adonai uns erwartet. – O Papachen, ist das nicht eine herrliche Weisheit Gottes?! Mein Herz ist so glücklich, dort werden wir Mamachen wiedersehen! Eines Tages!“

Schlomo hatte gebannt den Worten seiner Tochter gelauscht und dabei ganz vergessen die Töpferscheibe weiter zu drehen. Der Tonklumpen darauf, war mittlerweile schon wieder in sich zusammengesunken. Tränen standen in seinen Augen, als er sagte: „Da ist Dein Rabbi Jeschua wirklich mit Offenbarung und Weisheit des Ewigen geküsst worden! Ich glaube ich werde morgen auch einmal bei ihm in der Werkstatt vorbeischauen, denn auch ich habe da noch ein paar Fragen..!“ Dann wischte er sich mit seinen schmutzigen Händen die Tränen aus dem Gesicht und sagte: „Meinst Du, es wäre jetzt zu viel verlangt, wenn ich meine weise Tochter darum bitte ihrem, vor Hunger fast sterbenden alter Vater, das Nachtmahl zu bereiten!“

„Aber gerne doch, mein Herrscher und Gebieter!“ sagte Hadassa, schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln und ging zur Kochstelle.

Als dann am späten Abend sich Schlomo zum Schlafen hinlegte, musste er an das Geheimnis der Tage denken. Sein Herz wurde froh über die Gewissheit, dass es ein Wiedersehen mit Rachel geben würde. Er betete zu Adonai: „Lehre mich, mein Gott, an jedem neuen Tag, was es bedeutet zu leben und zu sterben! Und danke, dass Du mein Immanuel ist, der immer bei mir sein wird!“

So schloss er die Augen und glitt hinüber in den Schlaf.                         


M. Hoffmann – Mai 2021