Eins aber weiß ich!

Fabian war 12 Jahre alt und er liebte es enorm, seinen alten Großvater zu besuchen.
Ihr müsst wissen, das war ein ziemlich weiser Mann, so fand es jedenfalls Fabian. Mit Opa konnte man super reden, denn der hörte richtig gut zu. Er unterbrach einen nicht einfach, so wie die anderen Erwachsenen das oftmals taten. Und er hatte auch nicht immer auf alles gleich eine passende Antwort. Manchmal überlegte er ziemlich lange, bevor er überhaupt irgendetwas sagte. Bei Opa fühlte sich Fabian verstanden mit all seinen vielen Fragen und unfertigen Gedanken. Ja, Fabian liebte seinen Opa.

Es war also wieder Mal soweit. Fabian war in den Ferien bei seinem Großvater zu Besuch. Meistens werkelten sie dann im Haus oder draußen im Garten herum, bastelten und schraubten an irgendwelchen alten Teilen oder saßen genüsslich im Schatten auf der Bank unter dem uralten Apfelbaum. Der Baum muss bestimmt auch so alt sein, wie Opa, dachte Fabian bei sich selbst, als er in das knorrige Geäst emporblickte.

Da fiel ihm wieder die Frage ein, die er seinem Opa unbedingt stellen wollte:
„Opa, woher kommen wir Menschen eigentlich? In der Schule wurde erzählt, dass alles mit einem Urknall begann. Und seitdem entwickelt sich alles weiter. Irgendwann gab es dann auch uns Menschen. Die sagen, wir stammen von den Affen ab und dass das Leben auf unserer Erde ein glücklicher Zufall ist. Aber in ein paar Milliarden Jahren wird die Sonne aufhören zu scheinen und dann ist hier sowieso wieder alles zu Ende. Glaubst Du das auch?“

Der alte Mann räusperte sich verlegen, kratzte sich genüsslich hinterm Ohr und dann schwieg er für eine ziemlich lange Weile. Indessen saß Fabian geduldig neben ihm und versuchte nicht genervt drein zu schauen. Schließlich wusste er aus eigener Erfahrung, dass man mit Ungeduld bei Opa aber auch gar nichts bewirken kann. Der ließ sich nämlich nicht drängeln. Opa pflegte dann immer nur zu sagen: „Junger Mann, nicht so eilig bitte. Ein alter Mann ist auch kein D-Zug. Und außerdem besitze ich alle Zeit der Welt – schließlich bin ich ja Rentner!“ Und damit war dann jedes Mal alles gesagt.

Also wartete Fabian geduldig auf eine Antwort.
Nach einer gefühlten Ewigkeit schaute Opa ihn an und begann:
„Mann, o Mann, was die klugen Leute heutzutage alles nur so wissen. Das ist schon beeindruckend. Ja, ich habe auch von solchen interessanten Theorien gehört. Aber, Junge, wer soll das schon wirklich wissen. Schließlich ist kein Mensch so alt, dass er selber hätte dabei sein können. Doch, wenn ich ein wenig nachsinne und auf den reichen Schatz meiner Lebenserfahrungen zurück blicke, dann muss ich dir sagen: ich habe in meinem langen Leben noch nie erlebt, dass irgendetwas ganz von alleine entstanden ist oder sich weiterentwickeln konnte. Zum Beispiel da, der alte Rasenmäher. Erinnerst du dich, wie wir ihn letztes Jahr auseinandergenommen haben, um ihn zu reparieren.
Also das Ding hat sich weder selbst erfunden, noch selbst gebaut. Ich konnte es bestenfalls ein wenig auseinanderschrauben und nach dem Defekt suchen. Das Teil konnte sich auch nicht alleine reparieren, dazu brauchte es unsereinen. Ich will damit sagen: ich weiß nicht allzu viel – eins aber weiß ich…
Diese  Welt ist kein Zufall! Einer hat sie wunderbar gemacht und ER hält alles in Gang. Auch wir Menschen sind etwas ganz besonderes, finde ich. Wir haben das, was kein anderes Lebewesen besitzt. Wir haben ein Bewusstsein, Gefühle, Gewissen und Verstand.“

Die Antwort gefiel Fabian gut. Das ermutigte ihn gleich weiter zu fragen.
„Opa, und gibt es ein ewiges Leben nach dem Tod? Ich meine, was passiert, wenn wir sterben? Die einen stellen sich vor, dass wir dann total weg sind und alles vorbei ist. Andere glauben, dass da noch was kommt. Himmel oder so? Was glaubst du?“
Wieder schwieg der alte Mann lange, bevor er weitersprach:
„Junge, Junge, du stellst gute Fragen! Tja, da macht sich wohl jeder so seine eigenen Gedanken, schätze ich mal. Ich weiß nicht allzu viel, –  eins aber weiß ich…
Wenn heute Abend die Sonne untergehen wird, dann ist sie zwar hier nicht mehr zu sehen, aber sie ist nicht wirklich weg. Sie ist nur weitergezogen und geht woanders wieder auf.“

Dieses Mal schwieg Fabian auch für einige Minuten und dachte über Opas Antwort nach, bevor er schließlich seine dritte und letzte Frage stellte:
„Opa, unser Lehrer sagt immer: Wir leben, um unaufhörlich weiter zu lernen! Das würde nie enden. Das ist der wahre Grund für uns alle, hier auf der Welt zu sein, sagt er jedenfalls! Was denkst Du darüber?“
Für die letzte Antwort brauchte Opa keine lange Bedenkzeit.
Schnell und entschlossen antwortete er:
„Fabian, dein Lehrer muss ein wirklich kluger Kopf sein, was der so alles weiß. Ich bin ja nur ein einfacher Mann. Ich weiß nicht allzu viel – eins aber weiß ich…
Wenn ich eines Tages sterben werde, dann möchte ich nicht, dass man auf meinen Grabstein schreibt: „Nur Mühe und Arbeit war sein Leben!“ – aber auch nicht: „Er lebte nur, um zu lernen!“  – Ich glaube, dass Mein Schöpfergott mich – und auch dich und alle anderen Menschen – mit voller Absicht erfunden hat. Von IHM komme ich her, und zu IHM werde ich eines Tages gehen. Und in der Zwischenzeit, damit meine ich mein ganzes langes und doch so kurzes Dasein hier auf der Welt, lebe ich, um zu lieben. Die Liebe ist das Größte, Schönste und Wichtigste. Ja, ich glaube, wir Menschen sind für die Liebe gemacht! Gott zu lieben, den anderen zu lieben und auch unser eigenes kleines Leben in Liebe zu umarmen – das ist wozu ich lebe!“

So saßen beide noch lange Zeit gemeinsam auf der Bank unter dem Apfelbaum und schauten glücklich und zufrieden vor sich her. Sie schwiegen mit einander, denn alles Wichtige war bereits gesagt

Matthias Hoffmann
April 2021