Ein weiser, alter Gottesmann sprach einmal zu einem Jüngling:
„Komm, ich werde dich ein wunderbares Spiel lehren!
Man nennt es, das Glaskugelspiel!“
Während er dies noch sagte, zog er vorsichtig eine Reihe durchsichtiger Gaskugeln nach einander aus den bauschigen Falten seines Gewandes.
„Sieh nur, das ist die Freude!“ sagte der Ate und warf die erste Glaskugel seinem Gegenüber zu. Da geschah das Unfassbare und Wundervolle. Im Flug begann die Glaskugel in den prächtigsten Farben zu leuchten. Sie verbreitete solch einen atemberaubenden Glanz und ungeahnte Schönheit, dass der Jüngling bei ihrem Anblick ganz gebannt war und fast versäumt hätte, seine Hände zum Auffangen auszustrecken. Im letzten Moment fing er sie dann doch noch. Aber da verlor sie schon wieder ihr Strahlen und wurde so durchsichtig, wie zu Beginn.
„Merkst Du, mein Freund, nur im Weitergeben entfalten die Glaskugeln ihren wahren Glanz. Darum ist es so wichtig, das Empfangene gleich wieder loszulassen und weiter zu reichen. Auf diese Weise gelingt das Glaskugelspiel!“ fügte der Alte hinzu.
„Komm, wirf die Freude wieder zurück und das Spiel kann weitergehen.“
So trennte sich der Jüngling von der soeben gefangenen Freude. Und erneut schimmerte sie in herrlicher Farbenpracht beim Flug durch die Luft. Da kam auch schon die nächste Kugel geflogen. Diesmal war es die Hoffnung. Dann kam die Liebe, danach der Friede und auch noch die Freundlichkeit. Glaskugeln flogen hin und her. Alle Farben des Regenbogens leuchteten auf. Die Kugeln wechselten die Hände und berührten die Herzen der Fänger und Werfer gleichermaßen.
Und siehe, das Glaskugelspiel war sehr gut!
Da durchfuhr den Jüngling ein verführerischer Gedanke:
„Nur einmal die Freude festhalten dürfen! Nur einmal die Liebe für mich ganz alleine besitzen können! Nur einmal das Glück mit niemanden teilen müssen!“
Und so hielt er angespannt die Freude in seinen Händen und drückte sie fest an seine Brust, dabei zerbrach sie in tausend Stücke. Und weil er entsetzt auf die Scherben starrte, bemerkte er gar nicht, dass schon die nächste Kugel angeflogen kam. So verpasste er die Liebe. Auch sie fiel zu Boden und lag zersplittert vor ihm. Ebenso verfehlten ihn die nächsten Glaskugeln: Friede, Hoffnung, Vertrauen, Geduld…alles lag in Trümmern vor ihm. Ein riesiger Scherbenhaufen.
Der Jüngling begann bitterlich zu weinen. Jetzt war das herrliche Spiel vorbei und das alles nur, weil er es selbst zerstört hatte mit seiner Habgier und Unvernunft.
„Weine nicht, mein Freund!“ hörte er die sanfte Stimme des Gottesmannes sagen.
Der Alte näherte sich und trat entschlossen hinzu. Mühsam ging er auf seine Knie und fasste unerschrocken in den Glasscherbenhaufen hinein. Dabei zerschnitten ihm die Splitter und Bruchstücke die Hände. Er musste gewisslich enorme Schmerzen erleiden. Blut quoll aus vielen Wunden und tropfte über die zerbrochenen Glas-Fragmente. Der Gottesmann nahm jede Scherbe und mit seinem Blut verklebte er die einzelnen Teile. Da geschah das nächste Wunder. Was vorher noch zerstört daniederlag, formte sich erneut unter den blutenden Händen des Alten und wurde wieder heil und neu; ja, wunderschön – so, als ob gar nichts geschehen sei.
Der Gottesmann legte eine herrliche Glaskugel nach der anderen vor sich hin auf die Erde. Alle Kugeln waren wiederhergestellt: die Freude, der Friede, die Hoffnung, die Zufriedenheit, das Glück und wie immer sie mit Namen lauteten. Alles war wieder gut. Das Glaskugelspiel konnte also weitergehen.
Der Alte richtete sich auf und nahm ein paar Schritte Abstand, während der Jüngling kaum glauben konnte, was da soeben vor seinen Augen geschehen war.
„Lass uns von vorne beginnen!“ sprach der Gottesmann.
„Ich nehme an, dieses Mal hast du den tieferen Sinn des Spiels verstanden und wirst es wahrlich besser machen!“
„Ja, das werde ich!“ antwortete der Jüngling mutig, beugte sich und nahm die erste Kugel zärtlich in die Hand. Es war das Vertrauen. Er warf sie in die Luft und schon begann sie zu strahlen. Dann folgten Liebe, Hoffnung und Zuversicht. Ein Rausch an Farben und Empfindungen. Schöner als je zuvor. Ein Geben und ein Nehmen, ein Loslassen und Empfangen.
Und siehe, das Glaskugelspiel war sehr gut!

Matthias Hoffmann
März 2021