Vom Mann, der auf einmal wieder hören konnte

Sam hatte sich schon so sehr an seine Schwerhörigkeit gewöhnt, dass er sie im Alltag kaum mehr wahrnahm. Er könnte dir auch nicht sagen, wann es ihm selber zum ersten Mal so richtig bewusst wurde, dass sein Hören immer schlechter geworden war. Es war wohl eher ein schleichender Prozess. Schrittweise wurde es leiser und leiser um ihn her. Aber er merkte kaum etwas davon, weil dafür die anderen Stimmen in ihm umso lauter und lauter wurden.

Jene Stimmen. Voller Selbstzweifel und Kritik. Die verklagenden Worte von Unsicherheit und Versagen. Da war ein ständiges Tinnitus-Rauschen in seinen Ohren. Er hörte in seinem Inneren das Klagen seiner dominanten Mutter, die immer an allem etwas zu Nörgeln hatte. Oder das gehässige, laute Lachen seines Arbeitskollegens, der sich ständig lustig machte auf Kosten der Schwächeren. Das verunsicherte Sam und er fragte sich: „Ob der auch über mich lacht?“ Da waren die kritischen Worte und negativen Festlegungen, die ihn sein Leben lang schon verfolgten und ständig runtermachten.

Dieses Wirrwarr an brabbelnden Stimmen im Hinterkopf, diese lauten nervigen Hintergrundgeräusche seines Alltag-Lebens, sie waren für Sam derartig normal und vertraut geworden, dass er die zunehmende Taubheit, die sich bei ihm einstellte, gar nicht realisierte. Er hatte kein Gehör mehr für Menschen, die ihn ermutigen wollten und ihm gar Gutes sagten. Da war auch kein Aufhorchen möglich für neue Gedanken der Hoffnung und der Zukunft. Sam hörte nicht mehr gut. ER hörte nicht mehr zu. Und bald gehörte er auch nicht mehr dazu.

Denn je länger Sam seinen zunehmenden Hörverlust ignorierte, umso kleiner wurde sein Radius, der Lebensraum um ihn her.  Wenn er unter Menschen war, konnte er oftmals die Gespräche nicht richtig mit verfolgen. Die Frequenzen der Stimmen von Personen im Raum überlagerten einander und wurden zu einer quälenden Kakophonie. Es war ihm peinlich, immer wieder nachfragen zu müssen, wenn er mal wieder etwas nicht deutlich genug verstanden hatte. Manchmal versuchte er sogar von den Lippen der anderen abzulesen, aber das gelang ihm nur stümperhaft. Und so gab er auf. Er zog sich lieber zurück, und es wurde einsamer um ihn her.
Als er dann noch neulich beim Überqueren der Straße fast von einem Auto überfahren wurde, weil er das Hupen nicht gehört hatte, da bekam er es mit der Angst zu tun. Am liebsten wollte er jetzt gar nicht mehr das Haus verlassen.

Unaufhaltsam rückten die Grenzen näher. Seine Sinne schienen ihm wie Sand zwischen den Fingern zu zerrinnen. Sam war verzweifelt. Die Taubheit hatte mittlerweile sein ganzes Leben in Mitleidenschaft gezogen und hielt es nun fest im Griff. Alles fühlte sich irgendwie taub an. Nicht nur seine Ohren. Auch seine Augen schienen schlechter zu funktionieren. Sein ganzer Körper. Taub – gefühllos. Eine innere bleierne Schwere, wie eine Lähmung, nahm von ihm Besitz, raubte ihm alle Kraft und allen Lebensmut.
Er hatte davon gelesen, dass es schwarze Löcher im Universum geben soll, die alles verschlingen können. Ja, so kam es ihm jetzt vor. Fast hätte Sam aufgegeben und sich in sein unweigerliches Schicksal gefügt. Es war wie ein endloses Fallen in Bodenlosigkeit. ER sah schon das schwarze Loch auf sich zu rasen. Da löste sich innerlich ein Schrei in seinem Herzen. Ein Schrei um Hilfe, Rettung, festgehalten werden, aufgefangen sein. Sam schrie. Es schrie unhörbar in ihm, ohne Worte. Aber wer würde ihn hören, – erhören –  wo der doch selber nicht mal richtig hören kann?!

Und dann geschah jenes Wunder!
Das Rauschen verschwand abrupt und die  Stimmen in seinem Innersten verstummten.
Für einen Augenblick herrschte absolute Ruhe. Himmlischer Frieden. Alles wurde still in ihm. Auf einmal drang an sein Ohr der Gesang eines einzelnen Vogels, der draußen vor seinem Fenster im Baum saß und eine Melodie vor sich hin trällerte. Es kam Sam vor, als ob er noch nie zuvor dem Singen eines Vogels gelauscht hätte. Das war so einzigartig und wunderschön.

Je länger er fasziniert zuhörte, umso mehr wich die Taubheit aus allen seinen Sinnen. Die Lähmung löste sich völlig auf, wie Nebel im Morgenlicht der Sonne. Da verstummte das Lied und der Vogel flog weiter. Wieder wurde es still in ihm und um ihn her. Diese Stille war zum Greifen nahe und geradezu übernatürlich.
Auf einmal hörte Sam die Worte: „Habe keine Angst. Du bist nicht allein. Ich bin bei Dir und werde immer bei Dir sein, weil ich Dich liebe!“

„Wer war das nur?“ fragte sich Sam. „War das wohlmöglich Gott, der da zu ihm sprach?! Ja, geht denn das überhaupt, dass man Gottes Stimme hören kann?! “
In den kommenden Monaten wurde Sams Leben völlig transformiert. Es war ihm so, als ob er vorher noch nie wirklich gehört hätte. So lernte er neu das Hören. Das Zuhören, das Hinhören. Täglich hielt er inne und hörte intensiv zu. Ihn überraschte, wieviel er bisher überhört hatte oder auch gar nicht hören wollte. Er lauschte Tönen, Klängen und Melodien. Wenn jemand etwas zu ihm sagte, dann bekam er sogar die Fähigkeit, nicht nur die nackten Worte aufzunehmen. Er konnte fortan auch das Unausgesprochene hören.

Aber am meisten beglückte Sam, dass er tatsächlich Gottes Worte in seinem Innersten hören konnte. Es fiel ihm nicht schwer, Gottes Reden von allen anderen Stimmen und Geräuschen zu unterscheiden. Denn wenn Gott zu ihm sprach, das wusste er nun genau, dann waren das immer Worte voller Lebensermutigung und Liebeshinwendung. Diese Worte musste er hören. Von diesen Worten lebte er geradezu. Sie verliehen ihm täglich neue Kraft und wiesen ihm seinen Weg.
Ja, das ist die Geschichte von Sam, dem Mann, der auf einmal wieder hören konnte…und das alles nur, weil sein Herz Ohren bekam!


Matthias Hoffmann
Februar 2021