DER STERN IN JENER NACHT

Es war Mitternacht und Raffi war dran, die Nachtwache zu übernehmen.
Seit ein paar Monaten hatte er es geschafft. Er war nicht mehr länger der einfache Hirtenbursche aus einem unbedeutenden kleinen Dorf vom Land, sondern jetzt stand er in Diensten des Tempels von Jerusalem. Ja, tatsächlich er hatte es geschafft! Seine Familie war so stolz auf ihn; und der Lohn am Ende des Monats stimmte auch.

Es war eine jener sternenklaren Nächte. Kalt und windig, wie sie oftmals auf den Bergen Judäas daherkommen. In solchen dunklen Stunden malte sich Raffi in seinen kühnsten Träumen aus, mit wilden Bären und Löwen mutig zu kämpfen, wie einst König David, der auch hier auf den Feldern Bethlehems die Schafe hütete. Aber, was Raffi in jener besonderen Nacht erleben sollte, war weitaus mehr als jedes Abenteuer dieser Welt ihm bieten könnte.

Zuerst war da jener Stern. Schon seit Längerem war er den Hirten bei ihrer Nachtwache aufgefallen.  Man sprach darüber. Solch einen gewaltig großen und leuchtenden Himmelskörper hatten selbst die Alten und Erfahrensten noch nie beobachtet. Der strahlte ja fast so golden, wie der Mond. Das helle Licht in der Nacht ließ die Tiere unruhig sein. Ihr ständiges Blöcken wollte nicht aufhören und ließ die Hirten kaum Schlaf finden.

Da geschah es. Zuerst dachte Raffi, er wäre kurz eingenickt und träume nur. Aber das helle gleißende Licht, dass ihn, die anderen Hirten und selbst die Schafherde umstrahlte, war so real. Nein, das war kein Traum oder Trugbild. Aber was geschah jetzt hier? Geblendet vor lauter Helligkeit konnte keiner mehr etwas sehen.
Zunächst wurde alles leise. Bewegungslos und wie gelähmt stand Raffi da. Die Zeit schien, still zu stehen. Selbst die Schafe waren verstummt. Und dann war da jene Musik. Es klang wie der Gesang der Priester im Tempel. Aber, was soll ich sagen: es war noch viel herrlicher, erhebender und schöner zugleich. Wie ein Chor von Tausenden von Stimmen, rein und klar. Einfach himmlisch. So etwas Herrliches hatten Raffi und die anderen Hirten noch nie gehört. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an den hellen Schein. Jetzt konnten sie es sehen. Tatsächlich, es waren Tausende von Wesen, die rings umher standen und leidenschaftlich sangen. Raffi rieb sich die Augen. Das müssen Engel sein, Boten Gottes. So wie die aussahen. Er hatte auf dem Markt in Jerusalem schon mal ein Gefäß aus einem Material, das man Glas nannte, gesehen. Eine Karawane aus dem fernen Ägypten brachte es mit. Nie würde er vergessen, als das Licht der Sonne, wie ein kleiner Regenbogen, bunt durch jenes Gefäß schimmerte. Komisch, daran musste er jetzt denken im Anblick jener Himmelswesen.

Und eigenartig, was sangen sie nur immerzu da? Raffi lauschte …:

Ehre sei Gott im Himmel. Denn ER bringt der Welt Frieden und wendet Sich den Menschen in Liebe zu!“

Die Schockstarre der Hirten löste sich langsam, als sich ein großer mächtiger Engel ihnen näherte und mit sanfter Stimme zu sprechen begann: „Fürchtet euch nicht! Ich verkünde euch eine Botschaft, die das ganze Volk mit großer Freude erfüllen wird. Heute ist für euch in der Stadt, in der schon David geboren wurde, der versprochene Retter zur Welt gekommen. Es ist Christus der Herr! Und daran werdet ihr ihn erkennen: Das Kind liegt, in Windeln gewickelt, in einer Futterkrippe!“


So geheimnisvoll und überraschend, wie die Himmelswesen aus dem Unsichtbaren aufgetaucht   waren, so schnell waren sie auch wieder vor den Augen der Hirten verschwunden. Nun gab es für Raffi kein Halten mehr. Ohne zu überlegen, rannte er los. Und auch die anderen Hirten folgten ihm nach, hinein in die Dunkelheit der Nacht. Aber wohin? Wo würden sie den Retter, den ersehnten Messias, finden?
Da leuchtete jener Stern am Himmel. Jetzt, wo das Licht der Engel nicht mehr da war, konnten sie seinen Schein wieder wahrnehmen. Seine Strahlen markierten einen Pfad durch die Finsternis der Nacht. Nach wenigen Kilometern erreichten sie die ersten Hütten und Häuser von Bethlehem.  Wo mag wohl der Retter der Welt geboren sein? Vielleicht im Haus eines reichen Händlers oder in der Villa eines vornehmen Bürgers? Jetzt konnten sie es deutlich sehen. Das helle Licht des Sterns erstrahlte über einem schlichten Stall am Rand der Felder. Welch ein seltsamer Ort für die Geburt des Retters der Welt?!

Raffi drängte sich als erster durch die schmale Eingangspforte. Die anderen Hirten folgten ihm sogleich. Was sie dort fanden und sahen in jenem Stall, das hätten sie niemals beachtet und ganz gewiss in der Dunkelheit jener Nacht völlig übersehen, wäre nicht das Licht des Himmels durch die Engel und den Stern in ihrem Innersten aufgeleuchtet. Es hätte gewiss keinen größeren Unterschied geben können, zwischen dem, was ihre Augen da sahen und dem, was sich jetzt in ihren Herzen ereignete. Mit ihren natürlichen Sinnen erblickten sie eine ganz normale Familie: Vater, Mutter und ein neugeborenes Baby in der Armseligkeit eines Stalles. Aber im Licht der Herrlichkeit, das in ihren Herzen angezündet worden war, konnten sie im Glauben viel weiter schauen. So erkannten sie in diesem Kind das freundliche Angesicht Gottes.
Auf einmal ergab alles einen tieferen Sinn. Der Messias musste hier in Bethlehem geboren werden. Und sie, die Hirten, die dafür angestellt waren auf den Feldern Bethlehems Jahr für Jahr die perfekten Lämmer fürs Passafest zu suchen, sie sollten die ersten sein, die das Lamm Gottes finden würden. Es lag ein tiefes Geheimnis über jener Nacht.  Heilige Ehrfurcht überkam die einfachen Männer. Sie fühlten sich so geehrt, ein Teil von Gottes großem Plan zu sein.
Auf dem Weg zurück zur Herde, dachte Raffi nach: „Was für eine Nacht?! Ja, das ist wahrlich mehr, als ein Abenteuer mit wilden Tieren zu kämpfen!“ Dann begann er zu singen und die anderen stimmten froh mit ein. Auch, wenn der Gesang der Männer etwas schräg und schief daherkam, und nicht ganz so schön wie der Engelchor klang, aber ihre Herzen waren so voll von dem Wunder jener Nacht, dass sie einfach Gott lauthals loben mussten.

Der Stern jener Nacht war noch für viele Monate am Himmelszelt zu sehen, bis er kleiner und kleiner wurde und dann gänzlich verschwand. Aber sein Licht hat niemals aufgehört zu leuchten. Zuerst erstrahlte er in den Herzen von ein paar einfachen Hirten, so wie Raffi und dessen Freunden. Danach in den Herzen von Sternendeutern aus fernen Ländern. Später dann sollte sein heller Schein in den Jüngern Jesu weiterleuchten und auch in allen Menschen, die sich aufmachen würden, selber dem Wunder der Heiligen Nacht zu begegnen.

Der Apostel Paulus schrieb einmal:
„So wie Gott einmal befahl: Licht soll aus der Dunkelheit hervorstrahlen! – so hat Sein Licht auch unsere Herzen erhellt. Jetzt erkennen wir klar, dass uns in Jesus Christus Gottes Herrlichkeit entgegenstrahlt!“


Matthias Hoffmann
Weihnachts-Geschichte 2020