DER BÖSE BLICK

Weißt Du eigentlich, wie es damals dazu kam, dass die Menschen auf der ganzen Welt, sich nicht mehr einander in die Augen sehen wollten?! – Nein?!

Ja, so ist das mit uns Menschenkindern! Wir machen manchmal dumme Sachen, von denen wir später nicht mehr wissen, warum, wieso und weshalb. Deshalb braucht es uns, die Alten, die von den längst vergangenen Zeiten erzählen können, die es lange zuvor einmal gegeben hat und wo das Leben auch ganz anders aussehen konnte – ohne, dass uns gleich der Himmel auf den Kopf gefallen wäre. Aber nun alles der Reihe nach… Ich will Euch gern die Geschichte erzählen…

Wie gesagt, vor langer Zeit kam auf der Welt ein Gerücht auf. Zunächst behaupteten es nur ein paar wenige Leute. Aber, weil diese als Weise und Gelehrte großes Ansehen besaßen, sprach man bald überall davon. Wohlmöglich hatten die ja Recht. Vielleicht wussten sie mehr als die anderen. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde.Du fragst: was war denn nun jenes Gerücht?!

Damals begann jene schlimme Krankheit, die uns Menschenkinder bis heute so sehr quält – und keiner wusste so recht, wie sie zu heilen sei. Bis die Weisen und Gelehrten kamen und mit lauter, fester Stimme behaupteten: Sie hätten den wahren Grund für diese Krankheit herausgefunden. Es läge am bösen Blick! Jeder, der einem anderen zu fest in die Augen schaue, verbreite dadurch den bösen Blick. Und dieser böse Blick mache die Menschen krank und stehle ihnen die Lebenskraft. Deshalb sei künftig jeder Augenkontakt zu vermeiden! Nur so könne man die Menschheit noch retten!

Tja, und weil man den Weisen und Gelehrten vertraute, wurde genau getan, was sie von den Leuten forderten. Das war also der Beginn jener Zeit, wo weltweit die Menschen ihren Blick senkten, wenn sie einander begegneten.

Anfangs gab es an manchen Orten zwar noch Widerstand. Hier einige wenige Liebespaare, die nicht darauf verzichten wollten, einander tief in die Augen zu schauen. Dort ein paar Eltern, die mit ihren Blicken ihre Kinder lenken und leiten wollten. Aber der Druck der Mehrheit ließ keinen Widerspruch zu. Nein, nur durch gehorsames Wegschauen könne man den Fluch des bösen Blickes brechen und so die schlimme Krankheit abwenden.

Seitdem sind viele Jahre vergangen. Der Umgang der Menschen unter einander ist ein gänzlich anderer geworden. Auf jeden Fall kein besserer. Die Blicke der Leute ruhen jetzt nur noch auf Besitztümern, auf vergänglichen Sachen und auf dem Werk der eigenen Hände. Täglich hört man allerorten, welch eine Rettung es der Menschheit gebracht habe, dass wir einander nicht mehr justament in die Augen schauen. Zwar würden immer noch Menschen an der schlimmen Krankheit sterben, aber weitaus weniger als vorher. Deshalb bliebe das Wegschauen der einzig richtige Ausweg.

Es sei meinem Alter geschuldet. Aber ich hatte nun schon so viele Jahre mit gesenkten Augenlidern gelebt. Da war ich es leid geworden. Eines Tages hob ich meine Augen und sah mir die Menschen wieder an. So musste ich feststellen: Nein, das Wegschauen und einander aus dem Weg gehen, das hat uns nicht die Erlösung gebracht. Das hat die Menschen nur noch einsamer und innerlich kränker gemacht. Aber, weil wir einander ja nicht ansehen dürfen, bleibt die große innere Leere und Einsamkeit vor den Augen der meisten verborgen.

Ja, ich habe meine Augen wieder weit geöffnet!Und ich habe dabei festgestellt, es gibt da draußen noch viel mehr Augen-auf-Menschen, so wie mich. Unsere Blicke haben einander gesucht, gefunden und sind uns begegnet. Wir haben nicht mehr länger wegsehen wollen, sondern unsere Augen sprechen jetzt wieder mit einander. Unsere Blicke ruhen neu ineinander. Das tut so unendlich gut. Eine Augenweide für Hingucker.

Liebe Leute, ich kann nur sagen, dass mit dem bösen Blick ist einfach nicht wahr. Zwar weiß ich auch nicht genau, wie jene schlimme Krankheit daherkommt und völlig zu heilen sei, aber Wegschauen ist gewisslich nicht die Lösung – das weiß ich nun!

Es werden immer mehr, denen auch die Augen aufgehen und die neu zu sehen anfangen. Wohlmöglich werden sich auch unsere Blicke bald begegnen – dann schenk mir bitte Deinen guten Blick… und schau mir in die Augen, Kleines 😊!


Matthias Hoffmann
November 2020