Der Regenmacher

Kennt ihr die Geschichte davon, als alles Wasser von der Erde verschwand?

Zuerst trockneten die Brunnen aus. Ehemals sprudelnde Quellen versiegten. Wo vorher noch Flüsse, Seen und Meere zu finden waren, machten sich jetzt staubige Wüsten breit. Es fiel kein einziger Regentropfen mehr vom Himmel. So weit das Auge sah, erstreckte sich wolkenlose unendliche Weite. Selbst der Tau am Morgen blieb aus.
Alles Wasser war innerhalb kürzester Zeit vom Erdball verschwunden.

Die Regierenden und Mächtigen konnten anfangs noch die Menschen beruhigen.
Sie sprachen im Brustton der Überzeugung: „Wir haben alles im Griff! Wir haben gut vorgesorgt! Es ist genügend Wasser für alle da. Schaut nur, wir haben große Zisternen gebaut!“

Weise und Forscher, die klügsten Köpfe der Völker, meinten ebenso:
„Habt keine Angst, wir finden eine gute Lösung! Wir haben bisher immer einen Ausweg gefunden. Solche Durststrecken sind ausgezeichnet, um über uns selber hinauszuwachsen!“
Und tatsächlich, man baute große Maschinen, um das bittere Salzwasser der Ozeane trinken zu können. Selbst braunes Brackgewässer der Moore ließ sich filtern und halbwegs genießbar machen. Nachdem alle Reserven der Zisternen leergetrunken waren, verblasste schon bald jede Erinnerung, wie echtes Wasser wirklich schmeckte. Tag für Tag tranken die Leute stattdessen die salzig-schmutzig-ölige Brühe, die man ihnen darrreichte. Aber ihr Durst wurde damit nie gelöscht!

So kam es, dass die ersten Menschen vor Durst starben.
Es war schrecklich. Denn täglich verdursteten immer mehr Leute auf der ganzen Welt.
Selbst die Überlebenden litten noch große Pein, weil ungestillte Gier sie quälte.
Man sehnte sich von morgens bis abends nur nach einem Schluck zu trinken.
Aber alle Flüssigkeiten brachten keine Hilfe.  Unerbittlicher Durst brannte weiter wie Feuer in den ausgetrockneten Kehlen und Herzen.

Da erinnerten sich die Alten, dass es solch eine Not auf Erden schon einmal vor langer Zeit gegeben hat. Viele Jahre zuvor wurde die Menschheit in gleicher Weise heimgesucht. Doch damals suchten die Menschen ihre Hilfe nicht nur bei den Mächtigsten und Klügsten ihresgleichen, sondern sie riefen den Allmächtigen und Schöpfer aller Dinge um Hilfe an.
Die Alten wussten weiter zu berichten: Der Allmächtige und Schöpfer aller Dinge hörte damals auf ihr Flehen, denn sein Herz ist voller Güte und Barmherzigkeit. So sandte ER einen Retter in der Not. Den Regermacher.
Ihr fragt wohlmöglich, wer das war – jener Regenmacher!
Das war nicht irgendjemand. – Das war der Sohn des Höchsten höchstpersönlich!

ER sagte: „Menschenkinder, was meint ihr, wie lange kann jemand von euch ohne Wasser leben?!“ Die Leute antworteten: „Vielleicht ein-zwei Tage! Höchstens drei. Ja, drei Tage ohne trinken, ansonsten stirbt man!“
„Nun gut!“ entgegnete der Sohn des Höchsten. „Dann gebt mir drei Tage. Habt gut acht, was ich nach diesen Tagen tun werde! Ja, in drei Tagen nur, dann wird es regnen!“ – Da mussten damals die Leute laut lachen: „Ha, ha, ha! Regen?! Wir wissen schon gar nicht mehr, was das ist und wie das aussieht!“ sagten sie mutlos.

Da ging der Regenmacher fort aus ihrer Mitte.
ER zog einsam und allein auf einen hohen Berg. Dort setzte er sich hin und begann für die Menschenkinder zu beten. Je mehr ER den Allmächtigen und Schöpfer aller Dinge für sie anrief, umso mehr wurde sein eigenes Herz bewegt über aller Not. So begann ER zu weinen und konnte gar nicht mehr damit aufhören. Drei Tage und drei Nächte lang weinte ER aus vollem Herzen. Seine Tränen fielen auf den staubtrockenen Boden. Zuerst versickerten sie im Erdreich. Doch je mehr der Regenmacher weinte, umso mehr wurden seine Tränen zu einem Rinnsal. Das Rinnsal wurde zu einem Bäch. Der Bach zu einem Strom. Der Strom floss ins leere Flussbett. Und da geschah das Wunder. Überall, wohin der Strom der Tränen hinfloss, wurden Quellen neu zum Leben erweckt. Schon bald hörte man Wasser von allen Seiten her sprudeln und gurgeln, fließen und sich ergießen. Am Himmelszelt bildeten sich gar Wolken. Am dritten Tag war es dann soweit. Die ersten Tropfen fielen herab. Das Wasser war zurückgekommen. Die Menschenkinder tanzten im Regen und feierten den Segen des Lebens.
Ja, so war das damals. Und so kann es auch heute sein.

Nun ich frage euch, nachdem die Leute die uralten Geschichten vom Regenmacher gehört haben, würden sie wohl auch jetzt den Allmächtigen und Schöpfer aller Dinge wieder um Hilfe anrufen, dass ER auch dieses Mal einen Regenmacher senden möge?!

Ihr sagt: ihr wisst es nicht!
Ihr sagt: ihr habt Zweifel daran, ob die Leute an solch Wunder-Geschichten noch glauben?

Ich sage euch: wenn der Durst groß genug sein wird und die Sehnsucht nach dem echten Wasser kein anderer mehr stillen kann, dann wird die Welt wieder reif genug sein für solch wundersame Geschichten.
Dann wird wieder die Zeit für den Regenmacher gekommen sein.

Matthias Hoffmann
April 2020